Als ich neulich einen veganen Onlineshop durchstöberte, fand ich das perfekte Lebensmittel. Es hatte auf 100g tatsächlich null Kalorien. Und kostete in der günstigsten Variante 10 Euro pro Kilo, in der teuersten 22. Das hört sich verrücht an? Nein, nur wieder mal ein toller neuer Zuckerersatz. Zucker ist schlecht, er hat leere Kalorien, er lässt meinen Blutzuckerspiegel ansteigen, ich bekomme Diabetes davon, er macht mich fett. Zumindest sagt man das momentan sehr viel im Internet.
Zuckerfrei und sorgenfrei: Erythritol und Xylitol
Der Zuckerersatz, von dem ich spreche, nennt sich Erythritol.Das ist ein Zuckeralkohol, ein sehr ähnliches Produkt also wie Xylitol (Birkenzucker). Das Xylitol kostete online 12 € pro Kilo. Es hat wenig Kalorien und einen niedrigen glykämischen Index. Es kann sogar meine Zähne gesunderhalten und Kariesbakterien in die Flucht schlagen. Nur leider hat es Kalorien. Die hat Erythritol nicht. Was wohl der einzige Grund dafür ist, dass selbst Menschen die sonst gerne davon abraten, verarbeitete Produkte zu konsumieren, hier nicht die Nase rümpfen.
In veganen Onlineshops werden mir immer ganz viele tolle Dinge angepriesen. Wenn ich Zuckeralkohole nicht möchte, kann ich statt dessen zu „natürlichen“ Zuckeralternativen greifen. Mein Liebling ist Kokosblütenzucker. Der kostet sage und schreibe nur 30 €uro das Kilo. Im Vergleich dazu ist das Erythritol selbst in seiner teuersten Variante ein Schnäppchen. Und ich hab immer gedacht, ich gönn mir, der Umwelt und den Zuckeranbauern was, wenn ich den Fairtrade-Zucker für 5 € das Kilo kaufe. Ja, ich weiß, meine Gesundheit sollte mir wert sein, da mal etwas mehr auszugeben. Selbst wenn ich nicht übergewichtig bin, keinen Diabetes, keinen Bluthochdruck und keine Zöliakie habe, sollte ich mein Geld doch in gute und gesunde Lebensmittel stecken. Kokosblütenzucker hat ja immerhin wenig Kalorien, einen niedrigen GI und sogar Mineralstoffe.
Essen aus Genuss, nicht für die Moral
Das ist ja alles schön, aber wenn ich ehrlich bin ist mir das egal. Ich hasse zugeben zu müssen, dass ich Zucker aus Genuss esse. Was man anscheinend nicht mehr macht. Zucker ist schlecht für mich, habe ich ja schon geschrieben. Keine Nährstoffe, nur Kalorien. Und die will ich nicht, die machen mich fett. Und das will ich natürlich nicht sein. Das wäre das Schlimmste.
Moment, man kann doch alles haben. Ich muss nur kurz mein Portemonnaie ausleeren und mir Chia- statt Leinsamen kaufen und Kokosblütenzucker statt weißem Zucker. Das sollte ich mir gönnen, dann muss ich mich auch nicht schlecht fühlen.
Ich lebe in einer Überflussgesellschaft. Selbst für Veganer_innen gibt es an jeder Ecke genug zu essen. Ich hungere nie und das ist ein Problem. Ich fühle mich schlecht, weil ich immer alles haben kann. Ich fühle mich schlecht, weil auch tatsächlich oft alles habe. Und dann fühle ich mich schlecht, weil ich meinen Körper nicht zu 100 Prozent gesund versorge. Bin ich fit? Strahle ich Gesundheit aus? Hat mein Körper die richtige Form und Größe? Bin ich eine gute Veganerin? Lebensmittel wie Xylitol, Chia und Kokosblütenzucker sind die Antwort auf all meine nagenden Fragen, so suggeriert man mir. Ich kann Kuchen essen, sogar Pudding und gleichzeitig kann ich auf die Kalorien achten. Denn mein Kuchen ist voller Mineralstoffe, mein Pudding unterdrückt Hungergefühle, mein Blutzucker bleibt sediert und meine Zähne werden auferstehen aus Ruinen.
Aber irgendwie habe ich den Verdacht, dass die Leute, die mir all diese Superfoods verkaufen wollten, nicht an meiner Gesundheit interessiert sind. Sie wollen mich stattdessen von meinen Sünden befreien, mir helfen nicht mehr in Versuchung zu geraten, sie verkaufen mir Reinheit und gutes Essen. Das Problem ist nur, dass ich weder an gutes noch an schlechtes Essen glaube. Ich glaube stattdessen, dass es Jahr für Jahr eine neue Zutat zum Prügelknaben gemacht wird für unseren Lebensstil, für unseren Überfluss und für das schlechte Gewissen, dass uns plagt, weil wir alles haben. Altes aber immer noch bestes Beipiel: Gluten. Ein gefährlicher Lebensmittelbestandteil für alle, die an Zöliakie leiden. Für alle anderen kein Problem. Und dennnoch, so schreibt Ruby Tandoh:
Neulich hat jemand ein Foto meiner Marshmallows auf Instagram wiederveröffentlicht und sie als „gesund“ angepriesen. Okay, sie sind ohne Eier und ohne Gelatine. Und was auch immer man unter „gesund“ versteht, so kann man sich bestimmt darauf einigen, dass diese Marshmallows es nicht sind. Und das sollen sie auch nicht. Bitte nennt meine Kuchen, Kekse und Marshmallows nicht „gesund“. Und bitte fragt mich auch nicht nach „gesunden“ Alternativen. Ich will diese Fragen nicht beantworten. Denn entweder Ihr probiert das Rezept aus so wie es ist. Oder Ihr lasst es sein. Und ich erkläre auch gerne warum. Ich glaube nicht daran, dass es richtiges und falschen, gutes und schlechtes, schwarzes und weißes Essen gibt. (Jedenfalls nicht, wenn es um Nährstoffe geht. Ethische Fragen bezüglich Tierhaltung, Gemüseproduktion und Umweltbeslastung sind was ganz anderes. Aber das ist Thema für einen anderen Eintrag.) Nicht alles, was ich esse, muss gesund sein. Marshmallows können Teil meiner Ernährung sein. Ich muss sie ja nicht drei mal täglich essen, wenn Ihr versteht.
Ich werde Zucker nicht von meinem Speiseplan streichen. Und ich werde ihn auch definitiv nicht durch teure Alternativen ersetzen, nur weil da drei Milligramm Kalzium drin sind. Denn wer will bitte ernsthaft seinen Mineralstoffbedarf durch Zucker decken? Ich will guten alten weißen Zucker als Teil meines Speiseplans behalten. Genauso wie Gemüse, Getreide, Hülsenfrüchte, Nüsse, Tofu, Brot, Sojamilch, Eis, Mayonnaise, Nudeln und was es sonst noch gibt. Ich will mein Essen nicht in gut und schlecht aufteilen (denn das ist des doch, was oft mit „gesund“ vs „ungesund“ gemeint ist, oder?). Und vor allem will ich micht nicht schlecht fühlen, wenn ich bestimmte Dinge esse. Denn
„thinking of the foods [people] want to avoid as morally bad does not help them to eat a more nourishing diet in the long run. It doesn’t even help them to avoid those foods, most of the time. For a lot of us, it only succeeds in producing guilt for eating a perfectly human mix of foods“ (Michelle, The Fat Nutritionist).
Ein Stück Kuchen mit Raffinadezucker und Weimehl zu essen, ist nicht schlecht. Es ist nur ein Stück Kuchen. Nur Essen. Wer es hat, sollte es genießen. Und wenn man das ein- bis zweimal die Woche macht, wird das keine Gesundheit ruinieren. Es ist nicht schlimm. Denn meine Vitamine und Mineralstoffe bekomme ich nach wie vor vom Gemüseteller und der Linsensuppe die ich auch noch esse. Dafür brauche ich wirklich keine tollen Zuckeralternativen. Und genau wie Ruby Tandoh frage ich mich,
Außerdem sollten wir uns vergegenwärtigen, wie viel Geld das ist, für ein Kilo Zucker. Das hat einfach nicht jede_r. Oder man hat nicht die Zeit, drei Bioläden oder drei Onlineshops nach all diesen tollen Dingen zu durchsuchen. Und schließlich lösen teure Zuckeralternativen nicht die Probleme, um die es für die meisten von uns wirklich geht. Wenn man sich viele der selbsternannten Gesundheits- und Wellnessblogs (um diese geht es auch in dem gerade zitierten Artikel) ansieht, kann man nur darüber staunen, wie viele Rezepte es dort für „gesunde“ Kuchen, Kekse, Brownies usw. gibt. Menschen investieren unglaublich viel Zeit und Energie in das Herstellen „gesunder“ Naschereien mit Xylitol, Bohnen und Datteln. Und versichern uns, dass wir eben doch alles haben können. Kuchen mit vielen Nährstoffen, der uns schlank und gesund erhält.
Wir werden uns gut fühlen. Keine Schuld- und Schamgefühle, weil wir mal wieder heimlich einen Keks gegessen haben. Problem ist nur, das hilft nix. Diese Rezepte machen für manche Leute alles nur noch schlimmer. Zuckeralternativen und Zuckerersatzstoffe bieten keine gesundheitlichen Vorteile. Natürlich kann man auch von Brownies mit Bohnen und Kokoszucker dick werden. Denn das Problem ist nicht das Essen, sondern unser Verhältnis zum Essen.
Kokosblütenzucker löst keine Probleme
Für mich bedeutet das, dass ich nicht aufhören werde, weißen Zucker zu benutzen. Für mich ist es wichtig, meine gesamte Ernährungsweise im Blick zu behalten. Ich achte darauf, viel Gemüse und Obst, Hülsenfrüchte und Getreide, Nüsse und Samen, aber eben auch verarbeitete Dinge wie Tofu, Brot, Sojamilch, Fertigprodukte zu essen. Für mich ist es wichtig, mein Essen zu genießen ohne es zu bewerten. Klar, manchmal esse ich ein Stück Kuchen zu viel. Aber ich weiß eben auch, dass ich mich dann damit auseinandersetzen muss. Kokosblütenzucker würde mir da nicht helfen. Er würde mir eher eine sehr gute Rechtfertigung liefern, gleich zwei bis drei Stücke Kuchen zu essen, weil es sich ja um einen „gesunden“ Kuchen handelt.
Ich halte es da lieber wie die Autorin der Seite The Fat Nutritionist empfiehlt: Ich betreibe subversive Lebensmittelkombination. Ich esse Pizza mit Grünkohl, Kekse und Mandeln, Eis mit Früchten. Vieleicht esse ich sogar irgendwann mal einen Black Bean Brownie. Vielleicht. Ich werde mir dann allerdings nicht zu dieser richtigen Entscheidung gratulieren. Sondern einfach essen und mich darüber freuen, dass ich ihn habe und das Geld, welches ich nicht für teure Zuckeralternativen ausgegeben habe, nun für ein Buch übrig ist.
Euch allen eine schöne Woche!